Zeit ist wertvoll. Sie verstreicht mit jeder Minute und Sekunde und begleitet uns durch unser ganzes Leben. Mal scheint sie schnell zu vergehen, wenn wir uns im Einklang mit uns selbst befinden, wenn wir entspannen, aber auch, wenn wir Stress empfinden. Mal scheint sie still zu stehen. Scheint sie sich endlos hinzuziehen und auszudehnen und unsere Ungeduld auf die Probe zu stellen.
„Zeit ist Geld“, heißt es so oft im Volksmund. Wer Zeit hat, der hat effektiv geplant, der ist produktiv und hat etwas geleistet. Für Menschen mit Behinderung ist Effektivität und Produktivität in einer Zeit, in der alles auf Leistung und Schnelligkeit ausgerichtet ist, jedoch nicht immer umsetzbar. Zeit hat für sie einen eigenen Maßstab – die Crip Zeit.
Zahlreiche Barrieren, die im Alltag existieren, bewirken, dass behinderte Menschen zu spät kommen, jeder Ausflug mit Planungen und Recherchen verbunden ist und sich die Kluft zwischen gesundheitlich eingeschränkten und gesunden Menschen verbreitert.
Viele Barrieren werden dabei im Alltag von Menschen, die sie nicht betreffen, nicht wahrgenommen. Ein verschlossener, „barrierefreier“ Zugang zum Bahnhof oder die fehlende behindertengerechte Toilette auf Konzerten ist für sie bedeutungslos. Dass die fehlende Unterstützung in Alltagstätig-keiten für einen Menschen mit Behinderung einen enormen Zeitaufwand bedeutet, wird oft nicht gesehen.
Wenn die „Zeit die Uhr biegt, um körperlich und geistig behinderte Menschen zu treffen“, dann sprechen wir von Crip Zeit. Dann haben auch behinderte Menschen die Möglichkeit, flexibel an Arbeitspläne, Deadlines oder Schlaf- und Wachrhythmen heranzugehen. Dann haben sie die Möglichkeit, in einer Gesellschaft, die linear und perfektionistisch fungiert, ihren eigenen Rhythmus zu finden, im Einklang mit ihrem Körper, im Einklang mit ihren eigenen Maßstäben und im Einklang mit einer neu definierten Zeit zu sein. Ihrer Zeit.
Crip Time ist eine Neuorientierung von Zeit. Sie hat viele Gesichter und kann als erweiterte Zeit, als Verständnis für sich selbst und seine Krankheit oder auch als Lossagung von den Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung aufgefasst werden.
Doch sie hat auch Schattenseiten. Crip Time kennt auch Wut, Unverständnis und das Gefühl von Ungerechtigkeitl, in einer Welt voller Gesunder im Schatten zu leben. Ein Leben zu führen, dass außerhalb der Zeit stattfindet. Ein Leben bei dem Körper und Geist sich manchmal in die gleiche Richtung bewegen, bei dem viel öfter jedoch einer der beiden Teile in die entgegengesetzte strebt.
„Crip Zeit bedeutet, den gebrochenen Sprachen unseres Körpers zu lauschen, sie zu übersetzen, ihre Worte zu ehren“ (Elisabeth Magdlener).
Viel zu oft wird durch Vorurteile einem behinderten Körper Passivität zugeschrieben. Er gilt als dysfunktional, unvollkommen, nicht leistungsfähig, oder gar ästhetisch. Ist nicht eher das Gegenteil der Fall? Sind unsere Körper nicht alle eine Variante von Vielfältigkeit und menschlicher Lebensrealität? Sollten wir uns nicht eher von negativen Bewertungen losreißen und anfangen, Normen Individualität entgegenzusetzen? Sollten wir nicht endlich anfangen für uns selbst einzustehen und Norm durch Sein ersetzen? Jeder auf seine eigene Art.