Was macht ein sportlicher Mensch, wenn ihn ein Schicksalsschlag schachmatt setzt? Eine Hirnblutung machte meinen Mann 2012 zum Rollstuhlfahrer, der zur Nahrungsunterstützung eine PEG trägt und mit einer Trachealkanüle lebt. Der frühere ausdauernde Radfahrer, der auch vor großen Touren nicht zurückschreckte und der das Wandern liebte, der dem Camino de Santiago über mehrere tausend Kilometer gefolgt war und der auch viele andere Rucksacktouren unternommen hatte, brauchte 2015 dringend ein Erlebnis, dass ihm zeigte, dass sein Leben nach wie vor lebenswert war und auch noch Herausforderungen bot fernab von zuhause, von der gewohnten Umgebung.
Ich hatte meinem Mann immer versprochen, dass ich den Jakobsweg einmal mit ihm gehen würde – wenn die Kinder groß sind. Dieses Versprechen wollte ich jetzt erfüllen, habe mich in die Organisation gestürzt und beschlossen, seine Pflege für die geplanten drei Wanderwochen komplett selbst zu übernehmen. Freunde, die meinen Mann immer bei unterschiedlichen sportlichen Aktivitäten begleitet hatten, machten sich mit uns auf den Weg. Darunter auch ein Mediziner – denn ohne Arzt „an Bord“ verweigerte unsere Krankenkasse die Zustimmung zu unserem Unterfangen.
Die Pilgergruppe stand also und für die problemlose Fortbewegung meines Mannes stellte uns eine Firma für Pflegehilfsmittel, die wir an ihrem „Tag der offenen Tür“ kennengelernt hatten, einen komfortablen und geländegängigen Outdoor-Rollstuhl. Per Flugzeug wollten wir die Stadt Porto erreichen und von dort aus nach Santiago de Compostela wandern. Für unser Gepäck sollte ein Mietwagen gechartert werden. Auch das war nicht einfach, da die wenigsten die Ländergrenze von Portugal nach Spanien passieren durften.
Nach einjähriger Planung und erfolgreicher Lösung aller sich uns entgegenstellenden Probleme erreichten wir per Flugzeug die Stadt Porto. Wir hatten den Rollstuhl auf Empfehlung nicht aufs Gepäckband gestellt, sondern dafür gesorgt, dass er separat ins Flugzeug getragen wurde und waren guten Mutes, dass alles glatt gehen würde. Dennoch: Als wir unser Gepäck entgegennehmen wollten, war der Rollstuhl nicht da und nur mit hartnäckigem Hinterfragen und dank hilfsbereiten Flughafenpersonals wurde er wiedergefunden.
250 Kilometer legten wir in den folgenden Wochen zurück, zu Fuß, im Rollstuhl und, wenn das wegen der Witterung oder der Steigung, die es zu überwinden galt, nicht mehr möglich war – mit dem Auto. Die meiste Zeit aber waren wir zu Fuß und den Rollstuhl schiebend unterwegs. Statt der Pilgerherbergen wählten wir Hotels, weil dort die hygienischen Voraussetzungen für uns gegeben waren.
Highlights auf der Strecke waren ganz klar die Stadt Porto, die wir auch mit Rollstuhl gut erkunden konnten und eine relativ lange Strecke des Pilgerwegs von Porto nordwärts, die uns, immer auf Holzstegen, am Strand entlangführte und eine tolle Aussicht genießen ließ. Spannend war natürlich der letzte, steile Wegabschnitt rauf zur Kathedrale, bei dem wir wie so oft wieder ins Schwitzen kamen und auch der Rollstuhl nicht immer wirklich sicheren Boden unter den Rädern hatte.
Angefeuert von vielen Menschen, die wie wir den Berg zur Kathedrale erklommen, erreichten wir in unserer Pilgergruppe schließlich das Ziel und wurden am Treffpunkt für deutschsprachige Pilger freundlich aufgenommen. Unsere Erlebnisse auf dem Camino de Santiago fanden Erwähnung in der nächsten Messe und schweißen unsere aus Individualisten gebildete Pilgergruppe bis heute zusammen.
Wandern an sich hat schon einen speziellen Zauber, man lässt den Alltag hinter sich, genießt den Augenblick und die Landschaft um sich herum. Den Jakobsweg umgibt noch diese gewisse Mystik: ein starkes Gemeinschaftsgefühl — man hat mit tausenden anderen Menschen das gleiche Ziel. Und auch wenn der Zielpunkt, die Kathedrale in Santiago de Compostela, nicht für alle den gleichen religiösen Reiz hat, so ist es doch ein würdiger Endpunkt, von dem man auf die Strapazen des Weges zurückschauen kann. Sie ist ein Ort der Einkehr und die religiöse Symbolik, der Weihrauch, der gleich mehrere Sinne anspricht, ebenso wie die Figur des heiligen Jakob, machen den christlichen Glauben für alle Eintretenden greifbar.
Text: Britta Sommer
basierend auf den Erlebnissen der Familie Frohn aus dem Allgäu