„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hatte die Mutter mit einem Augenzwinkern gesagt, nachdem Sven lieber ins Bett gewollt hatte, als sich einen Spielfilm im Fernsehen anzusehen.
Statt eine Antwort zu geben, hatte Sven seinen Eltern nur zugelächelt. Ihm war nicht nach reden. Dazu war er viel zu gespannt, was ihm sein blauer Freund mit dem Namen 111 heute Abend über seinen Heimatplaneten berichten würde. In einem Punkt war er sich sicher: Die Schilderungen von 111 würden mit Sicherheit seine Vorstellungen vom Heimatplaneten des jungen Welten-Hüpfers noch übertreffen. Doch auch er würde für eine Überraschung in Form einer Idee sorgen. Er war sich sicher, dass 111 davon restlos begeistert sein würde.
Sven hatte die Augen geschlossen gehalten, während er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Und so war es ihm entgangen, dass 111 bereits in sein Zimmer gehüpft war. Lächelnd stand der Welten-Hüpfer vor dem Bett und betrachtete seinen Freund mit einem Blick, in dem Verbundenheit lag. Nicht nur, weil er Sven für einen sehr netten Jungen vom Planeten Erde hielt, sondern weil er ihn bewunderte. Niemand auf seinem Heimatplaneten war querschnittgelähmt, so wie es Sven seit seinem Unfall war. Ein Welten-Hüpfer musste leicht in die Hocke gehen, um von Welt zu Welt mit einer Art magischen Kraft zu hüpfen. Mit einer Querschnittlähmung ginge das nicht mehr. Für 111, wie für alle anderen Welten-Hüpfer, würde das Universum zusammenbrechen. Der Menschenjunge, der da vor ihm im Bett lag, konnte nicht mehr rennen, auf seinen Abenteuerbaum klettern und viele andere Dinge auch nicht mehr machen. Und trotzdem war Sven glücklich, nahm aktiv am Leben mit seinem Rollstuhl teil, lachte, spielte und war unglaublich nett und liebenswert. Eines Tages werde ich ihm das alles mal sagen, ging es 111 durch den Kopf. Doch jetzt muss erst einmal die Kurzform reichen: „Du bist im ganzen Universum mein bester Freund, auch wenn du ziemlich farblos bist.“
Sven lächelte. Er ließ dabei seine Augen weiterhin geschlossen. „Leg dich neben mich. Ich bin schon ganz gespannt, was du mir von deiner Heimatwelt zu berichten hast.“ Mit der linken Hand klopfte Sven auf die Stelle des Bettes, wo sich 111 ausbreiten konnte. Erst dann öffnete er seine Augen. „Bevor du loslegst, habe ich dir aber erst etwas zu erzählen. Was heißt erzählen, es ist eigentlich ein Vorschlag, den ich dir machen möchte.“
„Ich höre“, sagte der junge Welten-Hüpfer, während er sich langsam neben Sven ins Bett legte.
„Ich habe mir überlegt, dass wir beide mal einen Ausflug durch meine Stadt machen können.“
Der Welten-Hüpfer riss die Augen weit auf. „Nichts lieber als das! Aber wie soll das gehen? Ich bin blau und ihr seid alle mehr oder weniger ziemlich farblos. Das ist zu auffällig und wir Welten-Hüpfer dürfen auf fremden Welten keine große Aufmerksamkeit erregen.“
„Deshalb gehen wir beim Straßenkarneval hinaus.“ Sven grinste seinen blauen Freund schelmisch an.
„Was ist das jetzt schon wieder für eine Erdensache?“ Der Blick von 111 blieb skeptisch.
„Da verkleiden sich alle Menschen und Süßigkeiten werden von geschmückten Lastwagen geworfen“, antwortete Sven gelassen.
„Auch die Autos werden verkleidet?“, fragte 111 nach.
„So ungefähr. Ich erkläre dir das mit dem Karneval ein anderes Mal. Wichtig ist, dass du weißt, dass viele Menschen sich verkleiden. Manche so sehr, dass man sie gar nicht mehr erkennt. Alle haben viel Spaß. Es gibt viel Musik auf den Straßen und für die Kinder werden Süßigkeiten während der Umzüge geworfen.“ Sven sah 111 nun eindringlich an.
Der fragte aber: „Was für Umzüge?“
„Bei den Umzügen fahren die verkleideten Lastwagen durch die Straßen, von denen die Süßigkeiten geworfen werden. Verstehst du jetzt?“, fragte Sven.
„Ein wenig.“
„Also pass auf“, sagte Sven nun noch eindringlicher. „Wenn der Straßenkarneval beginnt, dann verkleide ich mich als Welten-Hüpfer. Ich ziehe nur blaue Sachen an und bemale mein Gesicht, meine Haare und auch meine Fingernägel mit blauer Farbe.“
„Und was ist mit deinen weißen Zähnen? Die können unmöglich so grässlich farblos bleiben.“ Kurz schüttelte sich 111 so, als ob er sich ekeln würde.
Sven lachte kurz. „Die bleiben schön weiß. Meine Mutter würde mir den Kopf abreißen, wenn ich meine Zähne blau anmale. Obwohl, warte mal, da gäbe es eine Möglichkeit, dass meine Zähne zumindest für einige Zeit etwas bläulich wären.“
„Lieber etwas bläulich für einige Zeit als grässlich weiß. Was willst du tun?“
„Ich esse Blaubeeren, bevor wir auf die Straße gehen und putze mir nicht die Zähne.“ Svens Gesichtsausdruck verriet, dass dieser Plan auch in der Tat umgesetzt wird.
„Und wie soll ich mich verkleiden?“, fragte 111.
„Gar nicht. Du bleibst einfach so, wie du bist. Jeder, der dich auf der Straße sieht, wird glauben, dass du ein ganz normaler Mensch bist, der sich blau verkleidet hat.“
„Jetzt verstehe ich! Dein Plan ist ausgezeichnet. Ganz ausgezeichnet! Für den Ausflug werde ich mir natürlich noch mehr Mühe für eine perfekte Frisur machen als sonst.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wann ist Karneval? Morgen?“
„Leider nicht“, antwortete Sven mit einem Seufzer. „Das dauert noch eine ganze Weile. Aber wir wissen nun, dass ich dir meine Welt da draußen einmal zeigen kann. Und außerdem können wir die Wartezeit mit planen verbringen. Wo gehen wir überall hin? Wie verkleide ich mich am besten? Und so weiter und so weiter.“
111 nickte zustimmend. „So wird es gemacht. Ich freue mich schon sehr auf Karneval. Kann es kaum noch erwarten.“
Jetzt war Sven mit dem Nicken an der Reihe. „Themenwechsel“, sagte er plötzlich. „Jetzt erzähl mir bitte alles von deiner Welt.“
„Dann schließ deine Augen, mein nur zu Karneval nicht farbloser Freund und stelle dir alles, was ich dir erzähle in den schönsten Blautönen vor.“ Lächelnd drehte er seinen Kopf zu Sven, der seine Augen bereits geschlossen hatte. „Meine Welt, ist die blauste Welt im gesamten Universum. Ihr Name ist Salaxier. In eurer Sprache bedeutet das so viel wie blauer Diamant. Salaxier ist von außergewöhnlicher Schönheit und natürlich ist alles blau.“
„Ist das nicht ein wenig eintönig, wenn alles nur blau ist?“, wollte Sven wissen.
„Nein, auf Salaxier ist nichts eintönig, weil es in der Welt der Welten-Hüpfer exakt 8.888 verschiedene Blautöne gibt. Und jeder dieser blauen Farben hat nicht nur einen eigenen Namen, sondern besitzt auch seine eigene Schönheit. Kein Welten-Hüpfer besitzt ein Lieblingsblau, weil jedes blau einzigartig und vollkommen ist. Das Erleben der 8.888 blauen Farben im Spiel der Natur macht Salaxier zur schönsten aller Welten, zu einem blau leuchtenden Planeten, dessen magisches Licht bis weit ins Universum zu sehen ist.“
„Kann man das blaue Licht auch von der Erde aus sehen?“, fragte Sven.
„Nein, Salaxier ist einfach zu weit weg“, antwortete 111 traurig.
„Wie schade“, sagte Sven. „Ich hätte das blaue Schimmern Salaxiers gerne gesehen.“
„Ihr Menschen besitzt viel Fantasie. Also schließ wieder deine Augen und lausche meinen Worten. Dann wird Salaxier in deinem Kopf entstehen.“
Sofort schloss Sven wieder seine Augen.
„Im Laufe der Zeit werde ich dir meine vielfältige blaue Welt beschreiben. Heute zeige ich dir in deiner Fantasie das Tal, in dem ich mit meinen Eltern lebe. Stell dir zunächst vor, dass wir beide uns dicht nebeneinander stellen und die Knie leicht beugen. Strecke dazu deine Hände schützend vor dem Gesicht aus und sage gleichzeitig: Hui, hui, hui ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui nun geht es nach Salaxier …“
Sven tat, wie ihm der Welten-Hüpfer es empfohlen hatte. In seiner Fantasie war Sven nun auf dem Hüpfer nach Salaxier und wartete darauf, dass 111 mit seiner Beschreibung seine Fantasie in ein blaues Meer von Bildern tauchen würde.
Nachdem sich 111 mit einem Blick auf Sven versichert hatte, dass sein Freund in seiner Fantasie im Sprung nach Salaxier ist, sagte er: „In Windeseile ziehen links und rechts Sterne und Planeten an dir vorbei. Hunderte, nein tausende von Sternen und Planeten ziehen an dir vorbei. Und nun siehst du in der Ferne ein wunderschönes blaues Licht. Immer mehr näherst du dich ihm. Immer größer und immer schöner wird dieses blaue Licht. Es ist das Licht Salaxiers. Jetzt bist du direkt über Salaxier und tauchst in seine blaue Atmosphäre ein. Erst jetzt erkennst du, wie viele blaue Farben es gibt. Der Sprung führt dich auf ein Tal zu, das umgeben von hohen dunkelblauen Bergen ist, auf deren Spitzen hellblauer, leuchtender Schnee liegt. Jetzt landest du sanft auf den weichen kristallblauen Gräsern im Tal. Die zartblaue Luft um dich herum ist warm. Schmetterlinge in den unterschiedlichsten Blautönen flattern lustig von einer blauen Blume zur nächsten. Blau gestreifte Pferde, blau gepunktete Kühe und blau gekringelte Ziegen und Schafe ziehen umher und fressen das saftige blaue Gras. In der Mitte des Tals liegt ein kleiner See. Sein Wasser ist kristallblau und scheint ein wenig von allein zu leuchten. In ihm tummeln sich zahlreiche Fische. Einige sind fast schwarzblau und andere sind neonblau und leuchten ganz hell. An den Berghängen stehen viele Bäume. Die meisten haben dunkelblaue Stämme, während die Blätter hellblau gestreift sind. In den Bäumen nisten Vögel. Manche sind so klein wie ein Daumen, andere sind groß wie ein Erwachsener. Aber so unterschiedlich sie in der Größe auch sind, so haben sie dennoch gemeinsam, dass sie alle ganz lieb und zutraulich sind und natürlich sind sie wunderschön. Bis zu 20 verschiedene Blautöne haben ihre Federkleider. Wenn sie dann von den warmen Winden getragen gleiten, funkeln ihre Federn im Licht der kristallblauen Sonnen.“
„Blaue Sonnen?“, fragte Sven mit geschlossenen Augen.
„Ja“, sagte 111 sanft. „Zwei kristallblaue Sonnen erwärmen Salaxier. Sie stehen so zueinander, dass es in meiner Welt niemals dunkel wird.“
„Und wann schlaft ihr?“, wollte Sven weiter wissen.
„Wenn wir Welten-Hüpfer müde sind, dann ziehen wir uns einfach in unsere dunkelblauen Schlafräume zurück. Dort ist es angenehm dunkelblau und ruhig. Nirgendwo im gesamten Universum kann man einen erholsameren Schlaf finden und taucht in tiefere blau gefärbte Träume ein als in den dunkelblauen Schlafräumen auf Salaxier.“
„Erzähl nicht von Schlafen“, sagte Sven. „Ich schlafe sonst gleich ein, während dieser wunderschönen Fantasiereise.“
Kurz lächelte 111 seinen Freund an. Dann sprach er in ganz sanftem Tonfall weiter: „Nun siehst du eine Burg. Es ist die 33-Blaufarben-Burg meiner Eltern und sie hat vier Türme. Im ersten Turm ist der Wohnraum, im zweiten Turm ist der Schlafraum meiner Eltern, im dritten Turm ist mein Spielraum und im vierten Turm ist mein Schlafraum.“
„Was hast du alles für Spielsachen?“, fragte Sven.
„Mein Lieblingsspielzeug ist ein großes Schaukelpferd aus dunkelblauem Holz, das mein Vater für mich geschnitzt hat. Es ist das schönste Schaukelpferd von ganz Salaxier.“
„Wie groß ist es?“, fragte Sven.
„So groß wie ein echtes blau gestreiftes Pferd auf den blauen Wiesen vor unserer 33-Blaufarben-Burg.“
„Wahnsinn“, entfuhr es Sven. „Da braucht man ja ein ganzes Zimmer für so ein großes Holzpferd.“
„In der Tat, das braucht man. Aber ich habe in meinem Spielturm ja 11 Zimmer.“
„Wahnsinn“, entfuhr es Sven erneut.
„In der Tat habe ich viele Spielräume mit sehr vielen Spielzeugen. Aber du musst auch bedenken, dass nur alle 99 Jahre ein Welten-Hüpfer geboren wird. Ich bin zurzeit das einzige Kind auf Salaxier. Der zweitjüngste Welten-Hüpfer ist nun 107 Jahre alt. Wenn ich zu Hause auf der 33-Blaufarben-Burg bin, muss ich fast immer alleine spielen. Da braucht man viel Spielzeug, sonst wird es selbst einem Welten-Hüpfer mit der Zeit langweilig.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Sven fast flüsternd.
„Dann versuche dir auch das vorzustellen“, sagte 111 sanft. „Stell dir den schönsten, kristallblauen See in der Mitte des Tales vor, den es im ganzen Universum gibt. Er wird gespeist durch das Wasser eines Regenfalls, der seinen Ursprung hoch in den dunkelblauen Bergen hat. Über 1.000 Meter stürzt das leuchtende kristallblaue Wasser hinunter ins Tal. Es ist der schönste Anblick auf ganz Salaxier, wenn das Wasser auf den blauen Boden des Tales hinabschwebt und kleinste Wassertropfen überall umherfliegen. Das leuchtende Licht der zwei bläulichen Sonnen spiegelt sich in den vielen Millionen Wassertröpfchen, die eine Art magische Wand bilden, in der sich die 33-Blaufarben-Burg spiegelt.“
111 spürte, dass sein farbloser Freund langsam anfing einzuschlafen. Er war sich sicher, dass Sven wunderschöne Träume von Salaxier haben würde. Vorsichtig kletterte er aus dem Bett. „Schlaf gut, mein bester aller besten Freunde“, sagte er flüsternd. „Morgen erzähle ich dir mehr von meiner Heimat und von der wichtigsten Person von ganz Salaxier. Ich erzähle dir von der Königin von Salaxier und ihrem blauen Glaspalast.“
Dann beugte er leicht die Knie, streckte die Hände schützend vor sein Gesicht und sprach ganz leise: „Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, wo geht die Reise hin? Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, jetzt geht es aber erst mal wieder heim.“