Der querschnittsgelähmte Sven bekommt Besuch aus dem Weltall. Das ist der Beginn einer Freundschaft, die Anderssein zulässt und gleichzeitig thematisiert. Eine Geschichte für Kinder und Erwachsene.
„Oh, wo bin ich denn hier gelandet?“ Überrascht sah sich der Junge mit der blauen Haut um.
„In meinem Zimmer“, antwortete eine Stimme, in deren Klang deutlich Verwunderung zu hören war.
„Oh, ich bin nicht allein. Phänomenal. Ich, der größte Welten-Hüpfer, den das Universum je erlebt hat, lande bei meiner 111. Reise in unmittelbarer Nähe eines Lebewesens. Bisher landete ich immer in Einöden und musste viele Schritte mit meinen schönen blauen Füßen machen, bis ich endlich jemanden zu Gesicht bekam.“ Langsam machte der blauhäutige Welten-Hüpfer, der nur einen kurzärmligen blauen Overall trug, einen Schritt auf das Lebewesen, das zugedeckt im Bett lag, zu. Neugierig sah er es dabei an. Das Lebewesen im Bett lag regungslos da und hielt sich schützend einen kleinen Teddy vor den Körper.
„Ein Kopf mit Haaren, zwei Ohren, zwei Augen, eine Nase, ein Mund, zwei Arme und zwei Hände. Soweit sind wir uns ja ähnlich. Nur wirkst du etwas farblos, so blass. Was für ein Lebewesen bist du? Hast du auch noch an deinem Körper Beine mit Füßen?“ Wieder machte der Welten-Hüpfer einen Schritt auf das für ihn fremde Lebewesen zu.
„Ich bin ein junger Mensch. Ich bin ein Junge“, antwortete das menschliche Lebewesen unsicher und fast flüsternd, das immer noch schützend den Teddy vor sich hielt.
„Und, du Mensch, du Junge, wie sieht es nun aus mit Beinen und Füßen?“
„Ich habe welche, aber ich kann sie nicht richtig benutzen.“ Es entstand eine kurze Pause, die der Junge im Bett dazu benutzte, sich die blauen Beine und Füße des Jungen anzusehen, der so plötzlich in seinem Zimmer erschienen war. Dann sah er dem fremden Wesen wieder in die blauen Augen. „Ich heiße Sven.“
„So, so, ein recht farbloser Menschenjunge namens Sven mit Beinen und Füßen, die er nicht richtig benutzen kann. Können alle Menschenjungen ihre Beine und Füße nicht richtig benutzen?“ Das blauhäutige Wesen stand nun ganz dicht am Bett.
Sven schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, ich hatte einen Unfall. Die meisten Kinder können laufen und rennen.“ Langsam ließ Sven den Teddy neben sich auf das Bett sinken.
„Was für einen Unfall hast du denn gehabt?“, wollte der blaue Junge sofort wissen.
„Erst einmal will ich wissen, wer du bist. Wo kommst du her und was willst du hier bei mir?“ Vorsichtig tippte Sven mit seinem Zeigefinger gegen den blauen Unterarm des Jungen, der wie selbstverständlich vor seinem Bett stand.
„Ich bin ein Welten-Hüpfer und im ganzen Universum bekannt und beliebt.“ Kurz rümpfte der Welten-Hüpfer arrogant die Nase.
„Und warum bist du so blau?“, wollte Seven wissen.
„Und warum bist du so farblos?“. Wieder rümpfte der Welten-Hüpfer kurz die Nase.
„Ich bin nicht farblos. Ich finde, dass ich eine gesunde rosige Farbe habe. Meine Mutter findet das auch. Ich habe gehört, wie sie das heute meiner Oma am Telefon gesagt hat.“
„Was ist denn ein Telefon?“, fragte der Welten-Hüpfer.
„Was ist denn ein Welten-Hüpfer?“, fragte Sven.
„Ich habe zuerst gefragt“, sagte der Welten-Hüpfer.
„Aber du bist in meinem Zimmer.“ Jetzt rümpfte Sven die Nase.
„So kommen wir nicht weiter“, sagte der Welten-Hüpfer. Langsam ließ er sich auf das Bett neben Sven nieder. „Gemütlich hast du es hier.“
Gerade wollte Sven etwas sagen, da ergriff das blauhäutige Wesen wieder das Wort. „Analysieren wir kurz die Situation. Ich bin der Gast und du der Gastgeber. Daher solltest du der Beantwortung meiner Frage Vorrang geben. Allerdings muss ich einräumen, dass ich ein unangemeldeter, ja sogar ein sehr überraschender Besucher bin. Also gut. Gastfreundschaft hin oder her, ich werde zunächst deine Frage beantworten.“
„Aber ein wenig leiser bitte. Es ist Schlafenszeit. Meine Eltern dürfen nicht mitbekommen, dass ich noch wach bin.“ So überrascht Sven vor ein paar Augenblicken wegen seines Besuchers mit der blauen Haut gewesen war, so überrascht war er nun, dass er überhaupt keine Angst vor dem Welten-Hüpfer hatte. Im Gegenteil, es kam ihm so vor, als ob er das Wesen mit der blauen Haut, in dessen Gesicht zwei hellblaue Augen funkelten, schon immer kennen würde.
Dem Welten-Hüpfer schien es ähnlich zu gehen. „Geht klar. Sprechen wir leise.“
Für einen kurzen Moment schwiegen die beiden. Konzentriert sahen sie sich an. Zeitgleich streckten sie ihre Hände aus und berührten gegenseitig ihre Gesichter. Vorsichtig betasteten sie ihre Haut. Dann sagte der Welten-Hüpfer: „Und du bist doch irgendwie farblos.“
„Und du bist irgendwie blau.“ Nach Svens Antwort lachten beide laut auf.
„Du sollst schlafen, Sven und nicht lachen.“ Die Stimme, die von außen in das Zimmer drang, hörte sich zwar gut gelaunt, aber auch sehr bestimmt an.
„Meine Mutter kommt. Versteck dich schnell hinter der Tür.“
Blitzschnell hatte der Welten-Hüpfer reagiert. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die Stelle, auf die Sven gezeigt hatte, als schon die Tür aufging. Kopfschüttelnd sah die Mutter in das Zimmer. „Dieses Bett ist um diese Zeit zum Schlafen gedacht. Also Sven, Augen zu und schlafen.
Brav lächelnd warf Sven seiner Mutter einen Kuss zu. „Gute Nacht, Mama“, sagte er.
„Gute Nacht. Schlaf gut und vor allem sofort.“ Svens Mutter warf ihm auch noch ein Küsschen zu, bevor sie die Tür schloss.
„Das war knapp“, flüsterte Sven. „Sie ist weg, du kannst wieder zu mir ans Bett kommen.“
Mit einem breiten Lächeln kam der Welten-Hüpfer zurück zum Bett. „Mütter sind wohl in der ganzen Galaxie alle gleich. Irgendwie sind sie immer so besorgt.“
„Auch die blauen Mütter?“, fragte Sven, auf dessen Gesicht ebenfalls ein breites Lächeln lag.
„Glaub mir einfach, weil ich schon sehr weit herum gekommen bin, dass die farblosen Mütter, die blauen Mütter, die grünen, die schwarz-weiß gestreiften, einfach alle Mütter im Universum irgendwie immer besorgt klingen …“
„… die schwarz-weiß gestreiften Mütter? Wo gibt es die denn?“
Der Welten-Hüpfer sah Sven für einen Moment verwundert an. Dann sagte er entschuldigend: „Verzeih bitte meinen Gesichtsausdruck, der für einige Augenblicke mit absoluter Sicherheit meine ganze Überraschung widerspiegelte. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass es Lebewesen gibt, die nicht von Welt zu Welt hüpfen wie wir. Irgendwie scheint mein Volk einzigartig zu sein. Die meisten Lebewesen im Universum reisen überhaupt nicht in der Galaxie herum. Die begnügen sich mit ihren kleinen oder mitunter auch größeren Planeten. Einige wenige reisen auch ein wenig mit Raumschiffen umher. Fürchterlich umständlich, sage ich dir. Das Reisen mit Raumschiffen ist viel zu langsam. Tagelang, wochenlang, monatelang, ja sogar jahrelang reisen die in ihren äußerst beengten Schiffen umher. Das Hüpfen von Welt zu Welt ist da viel angenehmer. Vor allem ist man immer früh genug zu Hause, bevor die Mutter anfängt, sich Sorgen zu machen … meistens zumindest.“
„Wie hüpfst du denn von Welt zu Welt?“, fragte Sven.
„Och, das ist einfach. Ich stelle mich mit leicht eingeknickten Knien so hin, als ob ich jeden Moment einen großen Hüpfer vorwärts machen würde. Die Arme strecke ich dabei so nach vorne aus, dass sie mir Schutz bieten. Schließlich weiß man nie, wo man landet. Und nichts wäre für einen Welten-Hüpfer peinlicher, als wenn er ungeschützt vor einen Widerstand knallt. Ich habe schon von Welten-Hüpfern gehört, die sind bei der Landung direkt an einer Mauer oder einem Baum kleben geblieben und haben sich eine gelbe Nase geholt …“
„Eine gelbe Nase?“, fragte Sven nach.
„Na klar gelb, wie denn sonst? Stell dir einmal in meinem makellos schönen blauen Gesicht eine gelbe Nase vor. Jeder Welten-Hüpfer wüsste sofort, dass ich die mir bei einer Landung zugezogen hätte. Nichts im ganzen Universum ist peinlicher …“
„Auf der Erde gibt es viele Möglichkeiten, sich zu blamieren. Zwar können wir uns keine gelbe, sondern nur eine rote oder eine blaue Nase holen, aber ich sage dir, dass es viele peinliche Momente gibt …“
„Nichts kann so peinlich wie eine gelbe Nase im Universum sein, Sven. Ich weiß Bescheid. Ich bin schließlich derjenige, der das Universum bereist und nicht du oder liege ich da falsch?“
„Wir Menschen hüpfen zwar nicht durch das Universum, aber wir fliegen mit Raketen und Raumgleitern und Satelliten herum …“
„Mit Raketen und Satelliten um eure Welt herumzufliegen, das sagt doch schon alles aus. Egal, wie viele Möglichkeiten es auf eurem Planeten auch geben mag, sich zu blamieren, im Universum ist und bleibt das Schlimmste, mit einer gelben Nase herumzulaufen. Das kannst du mir als erfahrenem Welten-Hüpfer glauben.“
„Erfahren?“, fragte Sven verwundert. „Du siehst nicht viel älter aus als ich und ich bin acht Jahre alt.“
„Ich bin schon neun Jahre alt, aber die Welten-Hüpfer entwickeln sich wahnsinnig schnell, so dass man ohne Übertreibung behaupten kann, dass ich eigentlich schon den Reifegrad eines Zehnjährigen habe.“
„Reifegrad! Was du für Worte benutzt. Davon einmal abgesehen, was hilft dir dein ganzer Reifegrad? Du weißt ja noch nicht einmal, was ein Telefon ist. Und auf meinem Planeten weiß das jedes Baby.“ Sven sah den Welten-Hüpfer auffordernd an.
Der Welten-Hüpfer grinste ein wenig verächtlich. „Na, dann bin ich aber mal gespannt, was Menschenbabys alles so kennen.“
„Über ein Telefon kann man mit anderen Menschen über weite Entfernung sprechen. Sie funktionieren über Leitungen oder über Funk. Die Stimme wird dabei in elektrische Impulse übertragen und über Antennen und Satelliten versendet. Rund um die ganze Welt. Beim Empfänger werden die elektrischen Impulse wieder in Sprache verwandelt. Und? Weißt du nun, was ein Telefon ist?“
„Klar, solche Dinger kennt man in den verschiedensten Formen auf den meisten Welten. Sie werden überwiegend Kommunikatoren genannt. Es wunderte mich schon, dass ihr in eurer Welt einen anderen Namen dafür habt.“ Wieder lächelte der Welten-Hüpfer ein wenig verächtlich. Dann veränderte sich plötzlich seine Miene und er sagte: „Na ja, meine größte Fähigkeit liegt nun einmal darin, mich zu wundern. Wir Welten-Hüpfer wundern uns oft. Nicht über uns selbst, sondern über die vielen seltsamen Verhaltensformen der Lebewesen im Universum. Abgesehen von der Bezeichnung Telefon wundere ich mich über alle Maßen über die Tatsache, dass du irgendwie farblos bist und es peinlich finden würdest, wenn du dir eine blaue Nase zuziehen würdest. Ich meine, sieh mich an. Eine blaue Nase ist eine Zierde. Vielleicht sogar die größte im ganzen Universum. Und euch Menschen ist es peinlich, eine blaue Nase zu haben, statt sie als wunderschön anzusehen, was sie, wie mein Beispiel zeigt, in der Tat ja auch ist …“
„Na ja …“, sagte Sven und verkniff sich eine weitere Antwort. Seinem Gesicht war aber anzusehen, dass er sich über die Arroganz des Welten-Hüpfers amüsierte. Gleichzeitig beneidete er ihn wegen seiner Fähigkeit, von Welt zu Welt hüpfen zu können.
Der Welten-Hüpfer hatte für einige Momente ganz ruhig da gesessen. Dann schüttelte er verneinend den Kopf. „Nein“, sagte er mit leiser, aber fester Stimme. „Vielleicht lässt sich auf der Welt der Menschen über Geschmack streiten, keinesfalls aber im Universum. Und schöne Nasen sind blaue Nasen, sind blaue Nasen, sind blaue Nasen, sind …“
Sven hielt seinem neuen Freund den blauen Mund zu. „Ist ja schon gut“, flüsterte er in Richtung des blauen Ohrs. „Nicht so laut, meine Mutter.“
Der Welten-Hüpfer drückte lächelnd die für ihn farblose Hand von seinem Mund fort. „Ich wusste, dass du einem neunjährigen Welten-Hüpfer, der die Erfahrung eines Zehnjährigen hat, recht geben würdest. Ich bin angenehm von den Menschen überrascht, dass sie ihre zuvor falsche Meinung so erfreulich schnell dem Wissen eines Welten-Hüpfers unterordnen und ihre Einstellungen ändern können.“
Sven stöhnte kopfschüttelnd auf. „Können wir nicht über etwas anderes reden?“
„Sehr gerne. Wir haben uns ja schon auf blau bei Nasen geeinigt. Deshalb können wir gerne das Thema wechseln. Wir wäre es mit diesem Thema: Wenn du deine Beine und Füße nicht richtig benutzen kannst, wie bewegst du dich dann voran?“
„Mit dem Rollstuhl, der dort in der Ecke steht.“ Sven zeigte in die Richtung, in der der Rollstuhl stand. „Er ist ganz praktisch. Er ist mein Fortbewegungsmittel. Allerdings gibt es viele Hindernisse, die ich nur mit Hilfe überwinden kann. Und beim Überqueren der Straßen muss ich besonders aufpassen. Die Autos fahren oft schnell und die Bordsteinkanten sind nicht immer einfach zu nehmen.“ Sven presste kurz die Lippen genervt zusammen. „Wie heißt du eigentlich?“
„111!“
„111?“, platzte es leise aus Sven heraus. „Das ist doch kein Name, das ist eine Zahl.“
„Wir Welten-Hüpfer tragen keine Namen. Die Anzahl unserer Reisen bestimmt unseren Namen. Ich bin 111 Mal zu Welten gehüpft und heiße deshalb 111, ist doch logisch, oder?“
„Und nach der nächsten Reise heißt du 112.“
„Ganz genau“, sagte der Welten-Hüpfer.
„Gibt es da nicht viele Verwechslungen, wenn man nur eine Zahl als Namen trägt?“, wollte Sven wissen.
„Nein, überhaupt nicht. Es gibt nicht so viele Welten-Hüpfer im Universum. Und ich bin der jüngste. Nur alle 99 Jahre wird ein Welten-Hüpfer geboren. Alle vor mir haben schon viel mehr Hüpfer durch die Galaxie gemacht als ich. Der zweitjüngste Welten-Hüpfer hieß zumindest gestern noch 2635.“
Sven hielt sich seine Decke vor den Mund, damit sein Lachen nicht so laut zu hören war.
„Was gibt es da zu lachen?“, wollte 111 wissen.
„Ach, vergiss es. Wenn es dir nichts ausmacht, dann nenne ich dich einfach Welten-Hüpfer. Dich mit der Zahl 111 anzusprechen, finde ich irgendwie eigenartig.“
„Ich finde es eigenartig, ein Wesen nicht mit seinem Namen anzusprechen, besonders wenn es sich um ein so faszinierendes Wesen, wie ich es bin, handelt. Aber da es so wenig Welten-Hüpfer gibt und da man davon ausgehen kann, dass du keinen anderen Welten-Hüpfer in deinem Leben kennenlernen wirst, akzeptiere ich meine von dir gewählte Benennung …“
„Benennung! Du drückst dich manchmal komisch aus.“
„Nur wenn du dich eigentümlich benimmst.“
„Eigentümlich! Schon wieder so ein Wort, das kein Mensch benutzt.“
„Ich bin ja auch kein farbloser Mensch, deshalb brauche ich auch nicht so farblos zu reden“, sagte 111.
„Ich bin nicht farblos. Wenn ich viel in der Sonne bin, dann werde ich ganz schön braun. Außerdem gibt es bei den Menschen verschiedene Hautfarben. Es gibt Menschen mit weißer Haut und ganz brauner Haut und mit allen Tönen dazwischen…“
„Keine mit blauer Haut?“, fragte der Welten-Hüpfer.
„Nein, blaue Menschen gibt es nicht. Außer sie sind ziemlich durchgefroren, dann sind sie ein wenig bläulich …“
„Also sind die Menschen doch irgendwie farblos. Die einen ein bisschen mehr, die anderen ein bisschen weniger. Im Vergleich zu meiner wundervollen blauen Haut, die im ganzen Universum als wirklich schöne Farbe betrachtet wird, seid ihr Menschen farblos. Aber, wie man im Universum so schön sagt, ist farblos nun einmal farblos, ist farblos, ist …“
„… farblos. Schon gut. Wir Menschen sind irgendwie farblos, weil wir nicht blau sind.“
Es entstand eine kurze Pause, in der sie sich amüsiert ansahen.
Dann wurde der Blick von Sven langsam ernster. Nach kurzem Zögern sagte er schließlich mit leiser Stimme: „Du wolltest doch eben wissen, was mit mir passiert ist. Es war ein Unfall beim Schwimmen. Ich war von einem Absatz in einen See gesprungen, den ich nicht kannte. Das Wasser war nicht so tief, wie ich gedacht hatte. Deshalb brach ich mir die Wirbelsäule. Als ich im Krankenhaus aufwachte, war ich querschnittgelähmt.“ Vorsichtig strich sich Sven mit beiden Händen über beide Oberschenkel. „Wenn ich so über sie streiche, spüre ich es nur an den Händen, aber nicht mehr an den Beinen. Ich kann nichts mehr mit ihnen machen.“
Sanft strich auch der Welten-Hüpfer über eines von Svens Beinen. „Spürst du meine Berührungen auch nicht?“
„Gar keine, von niemandem mehr.“ Svens Stimme blieb dabei ganz ruhig.
„Hm“, sagte der Welten-Hüpfer, vielleicht gibt es ja doch etwas Schlimmeres als eine gelbe Nase im Universum. Ich will mich da aber noch nicht endgültig festlegen.“
Sven lachte auf und hielt sich dabei schnell selbst die Hand vor den Mund. Dann sah er 111 fest an. „Auf eine witzige Weise bist du ziemlich arrogant und überheblich.“ Nach einer kurzen Pause fügte er ernster hinzu: „Ich habe mich mit meiner Querschnittlähmung abgefunden und mache das Beste draus. Ich habe Freunde, unternehme viel, gehe zur Schule und habe auch schon einmal an einem Wettrennen für Rollifahrer teilgenommen.“
111 nickte anerkennend. Plötzlich hupte es draußen auf der Straße. Kurz zuckte der Welten-Hüpfer zusammen. „Auf eurer Welt gibt es Autos? Hilfe! Sind sie schlank oder furchtbar dick?“
Sven kicherte mit verwundertem Blick. „Es gibt keine dicken oder schlanken Autos.“
„Also sind alle normalgewichtig?“, hinterfragte 111.
„Was erzählst du denn da?“, sagte Sven amüsiert.
„Eure Autos müssen doch etwas essen und offenbar habt ihr einen Weg gefunden, dass sie sich nicht überfressen und somit dick werden.“ Während 111 das sagte, wanderte sein Blick hinüber zum Fenster. In seinem Blick spiegelte sich Sorge wider.
„Autos bekommen auf unserer Welt Benzin oder Diesel, den sie dann im Motor verbrennen. Bei dieser Verbrennung entsteht Energie, die auf die Räder übertragen wird, damit die Autos von Erwachsenen, die einen Führerschein haben, fahren können.“ Breitgrinsend sah Sven den Welten-Hüpfer an.
„Ich verstehe. Autos bekommen in eurer Welt also Benzin oder Diesel, die ein Motor verbrennt und die dadurch gewonnene Energie auf die Räder überträgt, damit sich die Autos mit Hilfe von erwachsenen Führerscheinbesitzern vorwärts bewegen. Sehr interessant. Sie bekommen also keine Essensreste. Und auf diese Weise bleiben sie normalgewichtig. Wirklich sehr interessant.“
Sven grinste das blaue Wesen vor seinem Bett weiterhin breit an. „Was erzählst du denn da? Normalgewichtige Autos. Das habe ich ja noch nie gehört. Wie dem auch sei. Dafür entstehen in unserer Welt bei der Verbrennung stinkende und giftige Abgase. Ein wirkliches Problem für die Umwelt und alle Lebewesen. Ganz langsam geht die Entwicklung aber hin zu Elektroautos.“
„Schön zu hören“, sagte 111, „das mit der giftigen Stinkerei müsstet ihr Menschen mit euren Autos auf jeden Fall noch in den Griff bekommen. Aber das scheint mir doch leichter zu sein als die Probleme, die der Planet hatte, als ich noch 46 hieß.“
Sven lachte wieder laut. Dieses Mal legte sich aber eine blaue Hand auf seinen Mund. Als das Lachen erstickt war, löste sich die Hand von 111 wieder von Svens Mund. Sven grinste breit. Dann sagte er: „Entschuldige, aber es hört sich für mich sehr lustig an, wenn du sagst, als ich noch 46 hieß.“
Der Welten-Hüpfer winkte nur verständnislos mit seiner rechten blauen Hand ab. „Willst du die Geschichte meiner 46. Reise hören?“
„Klar!“
Langsam setzte sich 111 auf den Rand des Bettes. Tief atmete er dabei durch. Dann sagte er mit gewichtigem Tonfall: „Du ahnst es nicht. Aber als ich meinen 46. Welten-Hüpfer machte, da landete ich doch auf einem Planeten, in dem es nur so von übergewichtigen Autos wimmelte. Die Lebewesen dort hatten eine Technik entwickelt, durch die die Autos mit Essensresten fuhren. Der Vorteil liegt zunächst klar auf der blauen Hand. Die Abgase stinken nicht, die Umwelt wird daher nicht belastet und der Sprit ist günstig, weil er irgendwie immer vorhanden ist. Logisch, oder?“
Sven nickte zustimmend.
„Gut“, sagte der Welten-Hüpfer und fuhr fort: „Das Problem dieses Planeten ist aber, dass die einfach alle Essensreste in die Tanks ihrer Autos werfen. Dadurch haben die Autos aber zu viel Nahrung zur Energiegewinnung. Die Autos auf diesem Planeten wurden daher mit der Zeit immer dicker. Nach einiger Zeit war es sogar so, dass kein Autobesitzer dort so viel hätte fahren können, wie sein Auto eigentlich hätte fahren müssen, um nicht zuzunehmen. Es entstand ein Kreislauf. Ein verhängnisvoller Kreislauf. Je dicker die Autos wurden, umso mehr Platz nahmen sie auf den Straßen weg. Je weniger Platz da war, umso langsamer mussten die Autos gefahren werden. Je langsamer sie aber fuhren, umso weniger Energie verbrauchten sie. Da sie aber ständig mit Essensresten gefüttert wurden, wurden sie so immer und immer dicker. Die Straßen waren nach einiger Zeit mit dicken Autos im wahrsten Sinne des Wortes zugestopft. Wenn du nun glaubst, dass dieser Verkehrskollaps mit dicken Autos das Schlimmste gewesen ist, was dort drohte, dann irrst du gewaltig. Die Lebewesen dort — es waren übrigens die mit den schwarz-weiß gestreiften Müttern, die seltsamerweise allesamt schwarz-weiß gepunktete Männer heirateten — mussten nämlich ihrerseits immer mehr essen, damit immer mehr Essenreste für die Autos anfielen. Die übergewichtigen Autos hupten nämlich wild drauf los, wenn sie Hunger verspürten. Der nahezu unerträgliche Lärm auf diesem Planeten zwang diese gestreifte und gepunktete menschliche Lebensform dazu, immer mehr zu essen, um immer mehr Essensreste zu produzieren. Es war ein wahrer Teufelskreislauf. Denn nun wurden nicht nur die Autos immer und immer dicker, nein, nun wurden auch die Lebewesen dort immer dicker und dicker. Es war beängstigend. Ich war einfach nur froh, als ich von diesem Planeten weg kam. Damals lernte ich viel über das Gefühl der Platzangst …“
Der Welten-Hüpfer sah Sven an. „Warum beißt du in deine Decke?“, fragte er.
„Damit ich vor Lachen nicht laut schreie“, gab Sven kurz zurück, um sofort wieder in seine Decke zu beißen.
„Du glaubst mir die Geschichte meiner 46. Reise wohl nicht?“
„Doch, doch“, sagte Sven. „Einem blauen Jungen mit der Erfahrung eines Zehnjährigen glaube ich alles.“
Nun bissen beide in die Decke, um die Lautstärke ihres Lachens zu dämpfen.
Als erster bekam Sven seinen Lachanfall wieder unter Kontrolle. Nachdem er seine Zähne aus der Decke gelöste hatte, fragte er 111: „Landest du eigentlich immer bei Lebensformen, die menschenähnlich sind?“
„Meistens ja. Manchmal lande ich aber auch auf Planeten mit seltsamen Tieren.“
„Oh, davon möchte ich auch einige Geschichten gerne hören.“ In Svens Stimme lag ein Hauch von Quengeln.
111 grinste seinen farblosen Freund vielversprechend an.
Sven lächelte daraufhin seinen blauen Freund ebenfalls an. „Eine Frage hätte ich da noch. Wieso sprichst du eigentlich meine Sprache? Und hast du alle Sprachen bei deinen Reisen bisher verstehen können?“
Der Welten-Hüpfer grinste noch breiter als zuvor. „Das waren aber jetzt schon zwei Fragen. Aber ich will mal nicht so sein. Wenn ich auf einer Welt mit intelligenten Lebensformen lande, beherrsche ich einfach deren Sprache von der ersten Sekunde an. Das ist bei uns Welten-Hüpfern so. Ich muss aber jetzt schnell zurück, bevor meine Mutter merkt, dass ich wieder auf Reisen war. Es ist besser, wenn sie erst morgen erfährt, dass ich 111 heiße.“
Kurz lachte Sven auf, dann sah er seinen blauen Freund ängstlich an. „Sehe ich dich wieder?“, fragte er.
„Bisher bin ich niemals an einen Ort, den ich besucht hatte, zurückgekehrt. Doch dich mag ich sehr und mache eine Ausnahme, auch wenn du ziemlich farblos bist. Ich komme jetzt jeden Abend auf einen Sprung vorbei …“
„Im wahrsten Sinne des Wortes auf einen Sprung“, unterbrach Sven seinen neuen Freund 111.
„Ja, im wahrsten Sinne des Wortes. Verlass dich drauf. Ich glaube, dass wir viel voneinander lernen und Spaß miteinander haben können. Also dann bis morgen Abend, mein farbloser Freund.“
„Bis morgen, mein blauer Freund.“
Kurz lächelten sie sich noch einmal an. Dann beugte 111 leicht seine Knie und streckte die Arme schützend vor sich. „Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, wo geht die Reise hin? Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, doch nun geht es erst mal wieder heim…“
Idee & Text: Frank Müller