Sven strahlte seinen Vater an. „Danke, Papa, das ist genau die Baseballkappe, die ich haben wollte. Wo hast du die her?“
„Ich hatte heute einen Termin und entdeckte sie zufällig auf dem Rückweg in einem kleinen Ladenlokal. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es die richtige war.“
„Doch, es ist genau die, die ich mir schon so lange gewünscht habe. Danke, Papa. Vielen Dank.“ Sven setzte die Kappe auf und ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen.
„Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte Svens Vater.
„Was soll los sein? Ich freue mich über die Mütze.“
„Deiner Mutter und mir ist aufgefallen, dass du seit ungefähr einer Woche immer freiwillig und möglichst früh in dein Bett möchtest. Wir wundern uns nur ein wenig. In der Vergangenheit ging das Zubettgehen doch nie ohne Theater über die Bühne. Ist wirklich alles in Ordnung? Gibt es Ärger in der Schule oder mit irgendwelchen Schulkameraden? Du kannst ganz offen mit uns reden, das weißt du hoffentlich?“ Der Vater trat mit liebevollem Blick vor das Bett.
Sven sah seinen Vater nervös an. Die Zeit drängte. 111 konnte jeden Moment auf einen Hüpfer vorbei kommen und sein Vater stand vor ihm und schien sich nicht weg bewegen zu wollen. „Es ist wirklich alles in Ordnung. Ich habe auch keinen Ärger in der Schule oder so. Im Moment lese ich gerne abends noch ein wenig. Vielleicht bin ich einfach nur vor einer Woche erwachsen geworden.“
Svens Vater lachte laut auf. „So, so, der junge Mann ist also erwachsen geworden. Was liest du denn zurzeit?“
Sven griff nach einem der Bücher auf dem Tisch neben seinem Bett. „Du weißt, dass ich viel lese. Heute lese ich das hier weiter.“
„Oh, das ist bestimmt sehr spannend. Lesen ist ein wirklich tolles Hobby. Wenn du Lust hast, können wir beide ja auch mal ein Buch zusammen lesen.“
Sven wollte gerade antworten, da stand plötzlich der Welten-Hüpfer im Zimmer – direkt hinter Svens Vater.
„Was ist?“, fragte der Vater. „Du guckst gerade so erschrocken.“
„Ach, es ist nichts. Gar nichts.“
Der Welten-Hüpfer stand vor Schreck wie versteinert da. Seine ausgestreckten Hände, die seine blaue Nase schützen sollten, berührten fast den Rücken von Svens Vater.
„Wenn dir das mit den gemeinsamen Lesestunden nicht gefällt, dann kannst du das ruhig sagen. Es sollte ein Angebot sein. Erschrecken wollte ich dich damit nicht. Vielleicht bist du ja doch schon erwachsener, als ich geglaubt habe.“ Svens Vater machte einen Schritt zur Seite.
Blitzartig zog 111 seine Arme zurück.
Sven hatte seine Augen immer noch weit aufgerissen. Nervös zupfte er an seiner neuen Baseballkappe herum. „Nein, nein, Papa, das mit dem Lesen ist eine gute Idee. Was hältst du davon, wenn wir das nächste Buch zusammen lesen?“
„Gern“, antwortete der Vater. Dabei machte er noch einen Schritt zur Seite.
111 bewegte sich so, dass er stets im Rücken von Svens Vater blieb. Das Zimmer war klein. Eine Möglichkeit, sich zu verstecken, gab es nicht. Wenn Svens Vater sich umdrehen würde, dann wäre er entdeckt. 111 traute sich kaum zu atmen.
„Der Graf von Monte Christo! Was hältst du davon, wenn wir das Buch als erstes gemeinsam angehen?“ Svens Vater schien die gemeinsamen Lesestunden kaum noch abwarten zu können.
„Oh, super. Sobald ich das Buch hier fertig habe, legen wir los, okay?“ Sven spielte unruhig mit dem Buch in seiner Hand herum. Dann sagte er verlegen: „Ich bin ziemlich müde und würde gern jetzt noch ein bisschen lesen. Wir können ja morgen weiterreden, okay?“
Svens Vater klopfte Sven liebevoll auf die Baseballkappe. „Natürlich. Kein Problem. Reden wir morgen. Dann will ich nicht weiter stören.“ Langsam ging er rückwärts auf die Zimmertür zu. Mit weit aufgerissenen Augen direkt dahinter 111.
„Du störst nicht, Papa. Wirklich nicht. Es ist nur …“
„Schon gut“, sagte der Vater. „Viel Spaß beim Lesen und gute Nacht, Sven.“ Ohne hinzusehen, ergriff Svens Vater die Türklinke. 111 stand nun genau mit dem Rücken an der Wand. Fünf Zentimeter von ihm entfernt der Vater. Langsam öffnete dieser die Tür. „Versprich mir, dass du zu uns kommst, wenn du Probleme hast oder dich etwas bedrückt.“
„Versprochen, Papa. Macht euch keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.“
Svens Vater drehte sich zur Tür. 111 sprang zur Seite hinter die geöffnete Tür.
„Gute Nacht“, sagte der Vater noch einmal. Bevor er die Tür schloss, sah er seinen Sohn noch einmal lächelnd an. „Ich habe dich lieb“, sagte er.
„Ich dich auch, Papa.“
Die Tür schloss sich.
111 atmete tief durch, während Sven sich die Decke halb über den Kopf zog. Die Baseballkappe rutschte ihm dabei über die Augen. „Puh“, sagte Sven unter der Decke, „das war knapp.“
„Oh ja, das hätte voll ins blaue Auge gehen können“, sagte 111 kopfschüttelnd. Bei manchen Schritten fehlten nur noch Zentimeter und dein Vater und ich wären zusammengestoßen. Wieso war er denn um diese Uhrzeit hier?“
„Meine Eltern machen sich Sorgen, weil ich seit kurzem freiwillig so früh ins Bett möchte.“
„Das ist in der Tat sehr verdächtig. Soll ich mal ein paar Tage fortbleiben?“, fragte 111.
„Bloß nicht“, platzte es aus Sven hervor. „Ich habe zu einer Notlüge gegriffen und meinem Vater erzählt, dass ich abends gerne lesen würde.“
„Eine Notlüge ist auch eine Lüge“, sagte der Welten-Hüpfer mit leicht vorwurfsvollem Ton.
„Ich weiß, ich habe auch ein schlechtes Gewissen, aber was hätte ich anderes tun sollen?“
„Lassen wir das Thema.“
„Genau! Wie geht es deinem Groß-Groß-Groß-Groß-Onkel?“
„Die Frisur ist nicht mehr zu retten. Mein Groß-Groß-Groß-Groß-Onkel wird den Rest seines Lebens eine Frisur so platt wie ein Stück blaues Papier haben.“
„Der Arme! Und was macht er jetzt?“
„Hüpfer zu entfernten Welten will er keine mehr machen. Mit so einer riesigen platten Frisur kann man auch nicht mehr hüpfen. Eigentlich kann er anderen Welten-Hüpfern nur noch Wind mit seiner Frisur zufächern.“
Sven lachte laut auf.
„Du lachst, aber das Windzufächern geht natürlich nicht. Mein Groß-Groß-Groß-Groß-Onkel ist schließlich eine Respektsperson. Deshalb hat man ihm die Leitung des Welten-Hüpfer-Reise-Erinnerungs-Archives übertragen. Dort werden alle Erinnerungen von allen je durchgeführten Welten-Hüpfern gesammelt. Viele interessante Geschichten gibt es dort zu lesen und mein Groß-Groß-Groß-Groß-Onkel soll diese vielen Millionen Geschichten jetzt sortieren.“
„Viele Millionen Geschichten? Da hat er ja einiges zu tun.“
„Er hat ja jetzt genug Zeit. Im Moment wird nur der dunkelblaue Eingang zum Archiv vergrößert, damit mein Groß-Groß-Groß-Groß-Onkel mit seiner platten riesigen Frisur auch durch die Tür kommen kann.“
Wieder fing Sven laut an zu lachen.
„Na, das scheint ja ein lustiges Buch zu sein“, hörten die beiden den Vater von draußen reden.
Sven hielt sich den Mund zu.
„Du musst etwas sagen, Sven, sonst kommt dein Vater gleich wieder in dein Zimmer.“ Sicherheitshalber sprang 111 zu seinem Freund ins Bett und versteckte sich unter der Decke.
„Ja, das Buch ist ganz witzig. Gute Nacht, Mama, gute Nacht, Papa.“
„Gute Nacht, Sven“, drang es durch die Tür.
„Soll ich deinen Eltern auch eine gute Nacht wünschen“, sagte 111 mit einem breiten Lächeln.
Sven boxte 111 spielerisch vor die blaue Schulter. „Bloß nicht!“
Plötzlich drang durch das Fenster der Lärm einer Sirene.
111 hörte konzentriert auf das Signal. „Ich werde verrückt“, sagte er. „Ihr habt auf der Erde rote Feuerwehrautos, habe ich recht?“
Sven nickte zustimmend. „Woher weiß du das?“
„Diese Art von Sirene vergisst du niemals, wenn du einmal von einem roten Feuerwehrauto mit roter Götterspeise bespritzt worden bist.“
Sven sah 111 irritiert an. „Wieso mit roter Götterspeise?“
„Welche Farbe hat denn die Götterspeise der Feuerwehrautos auf deinem Planeten?“, wollte 111 wissen.
„Was haben den Feuerwehrautos mit Götterspeise zu tun?“, fragte Sven nach.
Jetzt sah 111 Sven auch völlig irritiert an. „Wir reden beide über rote Feuerwehrautos und dennoch habe ich das Gefühl, dass wir aneinander vorbei reden.“
„Das denke ich auch. Ich verstehe das mit der roten Götterspeise nämlich überhaupt nicht.“
„Dann erzähle mir doch einmal, wie das mit den roten Feuerwehrautos auf eurem Planeten so funktioniert“, sagte 111.
„Das ist eigentlich ganz einfach. Wenn es irgendwo brennt, dann wird die Feuerwehr gerufen. Die kommen dann mit ihren roten Feuerwehrwagen und spritzen Wasser auf das Feuer, damit es aufhört zu brennen.“
„Die spritzen mit Wasser auf Feuer?“, fragte 111 völlig überrascht.
„Ja, klar spritzt die Feuerwehr mit Wasser, mit was sonst?“, fragte Sven zurück.
„Na, mit roter Götterspeise gegen die Halsschmerzen natürlich.“
Sven sah seinen Freund völlig entgeistert an. „Halsschmerzen? Ich verstehe kein Wort!“
„Dann hör mir mal ganz genau zu. Die Geschichte, die ich dir erzähle, spielte zu einer Zeit, als ich noch 24 hieß. Damals …“
„Damals“, wiederholte Sven. „Das hört sich an, als ob du uralt wärst.“
„Also gut, als ich 24 hieß, da sprang ich auf einen Planeten, wo es von Sirenen nur so wimmelte. Wo ich meinen Blick auch hinwandte, überall sah ich rote Feuerwehrautos, die mit lautem Sirenensignal durch die Straßen jagten. Die Bewohner dieses Planeten schienen irgendwie ganz verrückt nach den Feuerwehrwagen zu sein. Überall liefen sie umher und riefen den vorbeirasenden roten Feuerwehrwagen zu: Hier bin ich, hier bin ich! Ich habe die schlimmsten Halsschmerzen von allen. Es brennt in meinem Hals wie Feuer. Spritzt mich zuerst voll. Immer und überall war es die gleiche Situation. Die Feuerwehrautos rasten umher und die Bewohner liefen um Hilfe rufend umher und forderten die Feuerwehrmänner und Feuerwehrfrauen auf, sie wegen ihrer brennenden Halsschmerzen vollzuspritzen. Irgendwann stand ich zufällig neben einem dieser Halsschmerzpatienten und der schrie, wie alle anderen auch, nach Rettung gegen sein Brennen im Hals. Und dann geschah es. Aus welchen Gründen auch immer wurde ausgerechnet derjenige von einem vorbeifahrenden Feuerwehrauto mit roter Götterspeise bespritzt. Mein Nachbar riss sofort den Mund auf und verschlang von der roten Götterspeise so viel, wie er nur schaffen konnte. Ich hingegen mag nur …“
„Blaue Götterspeise“, warf Sven ein.
„Ganz genau. Nur blaue Götterspeise. Ich hielt deshalb meinen blauen Mund fest verschlossen. Die Feuerwehr auf diesem Planeten zielt zum einen sehr schlecht und zum anderen scheinen sie über gewaltige Vorräte roter Götterspeise zu verfügen, sonst würden sie nicht so wild, so ziellos und vor allem so viel rote Götterspeise durch ihre dicken Feuerwehrschläuche verspritzen. Mein Nachbar und ich ertranken förmlich in roter Götterspeise. Ich war tropfnass davon. Viele andere Bewohner kamen zu unserer Stelle gelaufen und riefen ihrerseits um Löschmittel für ihren Halsschmerz, der wie Feuer in ihren Kehlen brannte. Und der Feuerwehrwagen verspritzte rote Götterspeise wahllos umher. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass egal, wohin die rote Götterspeise auch gespritzt wurde, irgendwie bekam ich immer etwas ab. Nach wenigen Minuten war von meiner schönen blauen Haut, meinen wunderschönen blauen Haaren und meiner tollen blauen Kleidung nichts mehr zu erkennen. Ich war einfach nur noch rot. Ekelhaft rot. Und es schmeckte so, wie es aussah: widerlich rot.“
Sven lag wieder einmal unter seiner Decke und hielt sich den Bauch vor Lachen. 111 blieb jedoch ernst. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er rote Götterspeise überhaupt nicht mochte.
„Und du willst mir erzählen, dass die Bewohner dieses Planeten ihre Halsschmerzen von einer roten Götterspeisenfeuerwehr behandeln lassen?“ Sven lachte weiter, als er das angeekelte Gesicht seines Freundes sah.
„Ich glaube auch nicht, dass die alle Halsschmerzen haben. Ich glaube, die tun einfach alle nur so, um an ihre über alles geliebte Götterspeise zu kommen. Ich meine, wer rote Götterspeise liebt, der ist auf diesem Planeten bestens aufgehoben. Ob er nun Halsschmerzen hat oder nicht.“ 111 schüttelte sich am ganzen Körper.
„Essen die da nur rote Götterspeise oder auch noch andere Sachen?“ wollte Sven wissen.
„Mein farbloser Freund, ich habe keine Ahnung. Ich war so voller roter Götterspeise, dass ich die Augen kaum noch aufbekam. Was sonst noch auf diesem Planeten alles so vor sich geht, das entzieht sich daher meiner Kenntnis. Es war ein so ekliges Erlebnis, mit einem roten Lebensmittel konfrontiert worden zu sein, dass ich ganze drei Wochen brauchte, bis ich wieder blaue Götterspeise mochte.“
„Du Armer“, sagte Sven und fing wieder an zu lachen.
„Für dich ist immer alles nur lustig und komisch“, sagte 111.
„Sei nicht böse“, sagte Sven beschwichtigend. „Aber viele deiner Geschichten sind nun einmal witzig. Zumindest für uns Menschen.“
„Ihr Farblosen habt eine eigenartige Vorstellung von Humor.“ 111 schüttelte verständnislos den Kopf.
Dann stand er auf und beugte leicht die Knie. „So, ich muss zurück. Morgen erwarte ich aber von dir eine gewisse Ernsthaftigkeit, wenn ich dich in meiner Fantasie mit auf meinen Heimatplaneten nehme.“
„Du erzählst mir morgen von deiner Welt? Das ist ja super! Natürlich bin ich morgen ganz ernsthaft. Bis morgen, mein blauer Freund.“
„Bis morgen!“, antwortete 111 lächelnd. Dann ging er leicht in die Hocke und hob seine blauen Hände schützend vor sein Gesicht. „Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, wo geht die Reise hin? Hui, hui, hui, ich hüpfe zu den Welten. Hui, hui, hui, jetzt geht es aber erst mal wieder heim.“